Riviera Cocktail (d)
Von Heinz Bütler
Kein Fotograf hat das gesellschaftliche und kulturelle Leben an der Côte d’Azur der «Golden Fifties» so umfassend, hellwach und mit feiner Ironie dokumentiert wie der Ire Edward Quinn (1920-1997). Mehr als ein Jahrzehnt lang hat sich Quinn ebenso diskret wie beharrlich in den Society-Dschungel an der französischen Riviera vorgewagt und in diesem irrlichternden Epizentrum des High Life und Big Business, der Kunst, Musik und Literatur unvergleichliche Schätze gehoben. Quinns Nachlass umfasst mehr als 100’000 Negative, zehntausende Kontaktbögen, tausende Abzüge in allen Formaten, Dokumente, Briefe und Fotos aus der Zeit, die begann, als in Nizza ein Plakat mit diesem Text aushing: «Eddie Quinero, le célèbre guitariste électrique. Pour la première fois sur la Côte d’Azur. Chez Léontine, Cabaret Américain, samedi 24 et dimanche 25 septembre 1949.»
Filmstars, Starlets, Maler und Bildhauer, Glücksspieler, Ex-Könige, Jazzmusiker, Hochadel, Reeder, Regisseure, Chansonniers, Politiker, Autorennfahrer, Pin-Up-Girls, Dirigenten, Schriftsteller, Primadonnen, Playboys, Choreografen, Filmproduzenten – sie alle sind die Protagonisten der Aufführung eines gesellschaftlichen und kulturellen Spektakels von blendender Grandezza. An der französischen Riviera der fünfziger Jahre leben Jetset und Halbwelt von Gala Night zu Gala Night, während kulturelle Prominenz eher die Ruhe des Hinterlandes vorzieht, wo sie sich schon bald nach Kriegsende niedergelassen hat, als die Häuser noch erschwinglich waren. Brennpunkte des Mondänen sind das Filmfestival von Cannes und Luxushotels wie das Carlton, in dessen Suiten die Music-Hall-Tänzerin und -Sängerin, Kurtisane und femme fatale «La belle Otéro» in der Belle Epoque Königen und Millionären den Kopf verdrehte. Inspiration zu den schwarzen Zwillingskuppeln des Carlton war für den Architekten angeblich Otéros mythischer Busen. Ärger gab es später dann mit einem herumpöbelnden Journalisten namens Benito Mussolini, den man der Hotelhalle verwies. In Zimmer 328 spielte Aristide Briand 1922 Cello.
Tino Rossi singt in seinem memorablen Chanson aus der Operette «Méditérranée» den Refrain: «Méditerranée aux îles d’or ensoleillées, aux rivages sans nuages, au ciel enchanté.» Doch der Welthorizont ist stellenweise düster. Die Fünfziger sind ein Jahrzehnt der Gewalt und Unsicherheit. Atomare Bedrohung, Bürgerkriege im Kongo und in Algerien, Suez- und Zypernkrise, Rassenunruhen in Notting Hill und Little Rock, die Hexenjagd des Senators McCarthy.
An der Côte d’Azur schaut man lieber weg und hinüber zu Nat King Cole, der im Sporting d’Eté in Monte Carlo unter Sternenhimmel und zu Meeresrauschen «True Love» singt. Die Existenzialisten und ihre Musen wiegen sich im Vieux Colombier in Juan-les-Pins barfuss und cheek-to-cheek zu Sidney Bechets «Petite fleur». Der Mond scheint auf Kaviar. Liz Taylor zieht mit Gefolge in Saint-Jean-Cap-Ferrat. ein.
James Dean wird zum Idol einer Jugend, die gegen eine suspekte Atmosphäre aus Biederkeit und Mief rebelliert. Aus der Gegenperspektive sehen Aufgeschreckte in der Juke Box eine Gefahr für die herrschende Moral und im Rock n’Roll musikalische Verrücktheit und Anarchie. Plastik ersetzt Bakelit, die Pauschalreise wird erfunden, die Schallmauer durchbrochen, der Weltraum erobert. Die «Teenager» kommen. Françoise Sagan schreibt im Hotel Carlton nach ihrem Skandalerstling und Bestseller Bonjour tristesse an ihrem neuen Buch Un certain sourire. Von Samuel Beckett erscheint Malone meurt. Charles Schultz erfindet die Peanuts und Citroën lanciert die DS, La Déesse, die Göttin. In Hollywood geht die grosse Zeit des Studiosystems zu Ende.
Im Vieux Colombier in Juan-les-Pins singt Juliette Gréco Chansons, die Jean-Paul Sartre und Raymond Queneau für sie geschrieben haben, im schwarzen Pullover und in schwarzer Hose – was damals für einen Skandal ausreichte. Das Highlife auf dem Grand Boulevard der Selbstdarstellung gleicht einem Fortsetzungsroman, der in einem gesellschaftlichen Durchlauferhitzer spielt, der von der lokalen Klatschpresse bei Maximaltemperatur rund um die Uhr in Betrieb gehalten wird. Und noch ist im Land des permanenten Kameralächelns mit Cleverness und Beziehungen auch unbehindertes Fotografieren möglich – bevor im Laufe der Sechzigerjahre Geld, strikt koordinierte TV- und Presseverträge, Agenten und PR-Beauftragte den Zugang zu den Stars reglementieren, und sich das Paparazzi-Prinzip endgültig durchsetzen wird.
Edward Quinn durchstreift die Gala Nights zwischen Cannes und Monte Carlo. Er fotografiert die bestangezogenen und schönsten Frauen der Epoche mit dem «Soundtrack» der Epoche im Ohr: Nat King Cole mit Unforgettable, Autumn Leaves und True Love – dem Song, den Grace Kelly in High Society gesungen hatte. Sinatra singt You Make Me Feel So Young, Edith Piaf Hymne à l’amour und Charles Aznavour Tu te laisses aller.
Edward Quinns Leica und Rolleiflex laufen heiss. Click around the clock: Winston Churchill logiert in Lord Beaverbrooks Villa Capponcina at Cap d’Ails. in Roquebrune. Silvana Mangano und Gina Lollobrigida spielen in der Dino de Laurentiis-Villa Casa del Mare Pétanque, Federico Fellini und Giulietta Masina schauen ihnen dabei zu. In Menton verbringt T.S. Eliot die Flitterwochen mit seiner jungen Frau Valérie. Onassis verlässt mit Maria Callas einen Nachtclub in Monte Carlo; die Primadonna verliebt sich in den Reeder. Colette verschafft Audrey Hepburn die Hauptrolle in «Gigi» am Broadway. Vivien Leigh geht mir ihrem Mann Sir Laurence Olivier auf Kreuzfahrt. Ginger Rogers tanzt im Sporting d’Eté von Monte Carlo. Liz Taylor entdeckt ein Collier, Kostenpunkt 500’000 Dollar. Gianni Agnelli geht nach einem Autounfall am Stock. Josephine Baker, Ella Fitzgerald, Marlene Dietrich, Maurice Chevalier, Charles Aznavour, Sammy Davis und Eartha Kitt treten an Gala-Abenden im Sporting d’Eté in Monte Carlo auf; Gary Cooper wirft vor Begeisterung Edith Piaf Rosen auf die Bühne. Juan Manuel Fangio und Stirling Moss gewinnen je zweimal den Grand Prix von Monaco. Jean Cocteau malt die Villa Santo Sospir auf Cap Ferrat aus, in der er mehrere Jahre lebt. James Stewart badet im Meer, Somerset Maugham raucht im Bett. Sir Thomas Beecham steckt sich eine Rhododendronblüte ins Knopfloch. Die Romanze zwischen Kim Novak und Cary Grant ist ein Highlight der Filmfestspiele von 1959. Der Schah von Persien entsteigt seinem Privatflugzeug. Alfred Hitchcock serviert Grace Kelly Kaffee auf dem Set von How To Catch A Thief. Marlon Brando gilt als «Amerikas Intellektuellen-Pin-Up-Boy». Aldous Huxley nimmt an einem parapsychologischen Seminar in Vence teil. An der Hochzeitsparty von Sidney Bechet und Elisabeth Ziegler in Antibes tanzt der Jazzmusiker mit Partygast Mistinguette. Pablo Picasso zeichnet in der Villa La Galloise mit seinen Kindern Claude und Paloma. Edward G. Robinson und Kirk Douglas sind vor dem Hotel Carlton ins Gespräch vertieft. Brigitte Bardot legt in Et Dieu créa la femme eine entfesselte Mambo-Nummer hin. Quinn dokumentiert bei den Dreharbeiten die Szene mit Erfolg: «Ich habe einige der Mambo-Fotos im Paris-Match-Büro gesehen. Wenn Sie noch aufregendere haben mit Bardot in anderen aufreizenden Posen oder Stadien des sich Ausziehens – bitte schicken. Fawcett möchte eine Auswahl. Was wir bringen, wird bezahlt. Der Rest geht an Sie zurück. Wenn Sie nicht dienen können, bitte ich um Nachricht. Beste Grüsse, George Harold.»
Edward («Ted») Quinn weiss schon früh, dass das Leben anderswo ist. Nicht im armen Dublin, wo er geboren wurde. Nicht in Belfast, wo er in einer Band Hawaii-Gitarre spielt und in einer Kirche einen deutschen Luftangriff überlebt. Nicht als Funker bei der Royal Airforce und nicht in den Klapperkisten der Chartair, in denen er in den ersten Nachkriegsjahren funkend zwischen Afrika und Europa hin und her pendelt.
1949 ist für Edward Quinn klar, wie die Endstation Sehnsucht heisst: Côte d’Azur. Auch hier schlägt er sich erst einmal als Musiker (Gitarre, Gesang, Kontrabass) durch. Angezogen von der „ruhigen, altmodischen Eleganz“ Monacos, mietet er in Monaco Ville ein kleines Appartement mit Blick auf den Fürstenpalast. Ted richtet das Objektiv seiner geliehenen Kodak Retina vorerst auf alles, was Aussicht auf ein wenig Geld verspricht. Zum Beispiel auf die im Hafen von Monaco ankernden Kriegsschiffe H.M.S. Mermaid und H.M.S. Magpie. Quinn verkauft der Besatzung insgesamt hundert Andenkenfotos ihres Schiffes, verdient aber nichts, weil er die Bilder beim Fachmann vergrössern lassen muss. Quinn fotografiert auch in Gerichtssälen, bis er herausfindet, was Zeitungen und Zeitschriften wirklich interessiert: People in the News. Der American National Enquirer schickt als Anschauungsunterricht Kopien von Fotos, auf die man in der Redaktion scharf ist: «As you can see, we prefer the bikini swimsuit and the type of figure that fills it well.»
Mit seiner Schweizer Freundin Gret erkundet Ted im Mathys-Cabriolet Küste und Hinterland und, mit zunehmender Faszination, die Auftritte der Schönen und Reichen, die sich hier vom Berühmtsein und Geldverdienen erholen. Die Technik ist lernbar. Das Auge hat man, oder man hat es nicht. Mit der Investition in eine Rolleiflex und einen alten Vergrösserer macht Quinn seine Faszination für das soziale Feuerwerk an der Blauen Küste bald und endgültig zu seinem Beruf.
Die ersten Aufnahmen, die Gret Quinn in der Zusammenarbeit mit ihrem Mann vergrössert, archiviert und an Illustrierte, Magazine, Agenturen und Sonntagszeitungen in ganz Europa verschickt, gehören in die Abteilung Pin-Up-Fotografie. Modellagenturen gibt es an der Côte d’Azur noch keine. Quinn ist bei der Suche nach Strandschönheiten, die sich mit Hilfe attraktiver Fotos Cinecittà oder Hollywood empfehlen, auf sich allein gestellt. Aus Artikeln in Fachzeitschriften hat er erfahren, welche Requisiten nützlich seien, wenn es darum gehe, ein Bild lebendiger zu machen. Bric-à-brac zum Beispiel, der um das Amateur-Modell herum zu drapieren sei, um die Monotonie aus Sand zu durchbrechen und die Fantasien des Betrachters zu befeuern. Auch eine in den Sand gelegte Gitarre eigne sich, um einer Fotografie eine «besondere Note» zu geben. Für Schwarzweiss-Aufnahmen wurde als Make-up Max Factor’s N25 empfohlen, für Farbbilder N3. Aus heutiger Sicht hat das Posen- und Verrenkungsrepertoire der Pin-Up-Girls der frühen 1950er Jahre gelegentlich etwas unfreiwillig Komisches. Gleichzeitig dokumentiert es eine Art erotischer Unschuld, die diesem Feld der Fotografie inzwischen völlig abhanden gekommen ist, und die sich nicht zuletzt aus der Spannung zwischen Alleszeigenwollen, aber nicht Alleszeigendürfen herleitet.
Immer mehr Agenturen interessieren sich für Quinns Pin-Up-Aufnahmen und feature stories, und über den amerikanischen International News Service bekommt Edward Quinn auch Zugang zum Zeitungs- und Newsgeschäft. Und schliesslich beliefert er auch renommierte Illustrierte wie PARIS MATCH und LIFE mit seinen Aufnahmen vom Highlife auf Yachten, in Hotelsuiten und an Strandpromenaden.
Im Edward Quinn-Archiv ist zu entdecken, dass einige spätere Stars ihre Karrieren als Pin-Ups und, wie im Fall von Audrey Hepburn als kaum bekannte Schauspielerinnen begannen. Audrey Hepburn – in einer Pressemitteilung als Audrey Hopbern aufgeführt – kam 1951 an die Côte d’Azur, um eine Nebenrolle im Film Monte Carlo Baby zu spielen. Quinn erkannte ihre schauspielerischen Fähigkeiten und schlug Audrey Hepburn ein Fotoshooting im Hinterland vor. Audrey schickte die Aufnahmen ihrem Agenten in Hollywood und bekam darauf die weibliche Hauptrolle in Roman Holiday, für den sie auch einen Oscar gewann.
Langsam setzt sich am Strand und auf der Leinwand allerdings eine Art Sex Appeal durch, der völlig verschieden ist von Stil und Eleganz à la Hepburn, Bergman, Kelly, Morgan. Und keine angehende Schauspielerin verkörpert den neuen Trend zum Expliziten so deutlich wie das „sex kitten“ Brigitte Bardot, die ebenso jung (18) wie unbekannt ist, als Edward Quinn sie zum erstenmal fotografiert.
Bis 1956 ist mit der Bardot eine von totalem Einverständnis geprägte Zusammenarbeit möglich. Entsprechend aufschlussreich ist Quinns Ausbeute, die BB und den Rummel um ihre Person mit einer Unbefangenheit und Leichtigkeit dokumentiert, die mehr Authentizität preisgeben als die Bilder des Privat-Fotografen, mit dem der inzwischen hochbezahlte Star anreist. Fortan ist Brigitte Bardot auf vielen Fotos nur noch als kalt inszenierte Ikone der Filmindustrie zu sehen.
Zum Glück gibt es noch Jayne Mansfield, die sich auf dem Strandsteg gerade den Fotografen offenbart, während auf einem anderen Quinn-Foto weibliche Fans im Bikini vor der Wiener Pâtisseriefassade des Hotels Carlton in Cannes einen Gary Cooper in Veston und Krawatte anhimmeln. Quinns picture story des Flirts zwischen Kim Novak und Cary Grant von 1959 ergäbe verheissungsvolle Aushangfotos zu einer nie gedrehten Hollywood-Romanze.
«Man klopfte einfach an die Zimmertür. Wurde geöffnet, sagte man: Ich komme von dieser oder jener Illustrierten oder Zeitung, um Sie zu fotografieren. Man musste überzeugend wirken. Und ich vertrat ja auch Zeitschriften wie PARIS MATCH. „Ich bin von PARIS MATCH.“ Antwort: „Okay, kommen Sie in zehn Minuten wieder.“ Nach weiteren zehn Minuten hiess es wieder „in zehn Minuten.“ Man musste dran bleiben.»
Edward Quinn ist auf der Jagd nach shots, die Massenblätter einem Millionenpublikum als Einblick in das wahre Leben der Schönen und Reichen verkaufen werden. Er fotografiert, was sich vermarkten lässt und damit einigermassen die Existenz sichert. Er hilft mit, den Glamourbedarf der Klatschpresse zu decken, aber er liefert auch fotografische Qualität.
Die Loren-Episode während des Filmfestivals von Cannes 1955 lässt vermuten, dass Quinn so etwas wie die Synthese von kontrolliertem Draufgängertum und Türen öffnendem Charme war. -
Pressekonferenz im Hotelzimmer der Loren. Die Fotografenmeute legt sich ins Zeug, während Quinn es vorzieht, im Badezimmer zu verschwinden. Dort bleibt er einstweilen und kommt erst wieder heraus, als der Pulk abgezogen ist. Charming «Ted» entschuldigt sich bei der Loren und begründet sein Verhalten mit der Bitte um ein paar Aufnahmen aus eigener Sicht, wie es seine Art sei. Sophia Loren leuchtet das ein, und Quinn nutzt wie immer virtuos den Spielraum zwischen kalkulierter Selbstinszenierung und Spontaneität, den ihm viele Stars mit sichtlichem Vergnügen gewähren.
«Zum Glück vertraute man mir so sehr, dass niemand die Fotos vor der Veröffentlichung sehen wollte. Die Leute wussten, dass ich ein unvorteilhaftes Foto nicht veröffentlichen würde. Nichts ist leichter als das. Der Augenblick, in dem man auslöst, ist entscheidend. Das ist das Grosse an der Fotografie. Jeden Sekundenbruchteil ein neues Bild. Jemand hat sich bewegt, das Licht ist etwas anders. Man ist immer gefordert, und das perfekte Foto gibt es nicht. Man versucht, das Beste aus einer Situation zu machen. Grosse Fotografen haben mich beeinflusst, vor allem Cartier-Bresson. In seinen Aufnahmen stimmt alles: Hintergrund, Augenblick. Er wusste zu warten und unauffällig, ja abwesend zu sein. Mit dieser Art Fotografie im Hinterkopf habe ich gearbeitet. Auch im Newsgeschäft mit den Filmstars. Auch da suchte ich das bestmögliche Bild.»
Ohne Anbiederung gelingen Quinn fotografisch produktive Augenblicksbeziehungen, die uns als Betrachter immer wieder das Gefühl geben, hinter der Star- und Hollywoodfassade auch die Privatperson zu ahnen. Vielleicht ist aber auch genau das authentisch, was inszeniert scheint und brillant gespielt, was natürlich wirkt. Das passt zu Quinn, weil auch er auf dem schmalen Grat zwischen List und Liebenswürdigkeit seine besten Resultate erzielte. Die filmische Schwarzweiss-Ästhetik entrückt sodann die besten Bilder vollends in Bezirke der Nostalgie und Sehnsucht, wo Unausgesprochenes mehr bewirkt als das geheimnislos Explizite. Ausserdem haben die Stars und Celebrities vom Anti-Paparazzo Quinn nichts zu befürchten. Quinn stellt seine Selbstdarsteller nicht bloss, sondern so starlike dar, wie sie sich selber am liebsten sehen.
Quinn kann vielerorts vorbeischauen, wann er will und fotografieren, wie er will – so auch auf Onasssis’ Yacht Christina, auf die der Reeder zu Publicityzwecken am liebsten Hollywood- und Politprominenz, darunter Winston Churchill, einlädt. Kein Wunder, dass Quinn auf John Wayne stösst, der gerade eine Pathé-Filmkamera mustert – wie einen Colt.
Somerset Maugham lässt sich rauchend im Bett fotografieren, stoisch. Marlon Brando bummelt für Quinn mit seiner Verlobten (Fischerstochter, kein Happy End) durch das Städtchen Bandol. Grace Kelly unternimmt 1955 für Edward Quinn einen Rundgang durch den Fürstenpalast in Monaco, bis der verspätete Rainier III. eintrifft: handshake, ein Jahr später Hochzeit. Doch da weht bereits ein anderer Wind, und für einzelgängerische Bilderjäger wie Quinn verengen sich zunehmend die Perspektiven. Fürstin Gracia bringt jetzt ihren Privatfotografen mit und Fürst Rainier hat einen PR-Agenten engagiert: «MM. Les photographes» sind «autorisiert, die Tanzfläche zu betreten und während rund 4 Minuten Aufnahmen von der fürstlichen Tafel zu machen.»
Die Beschäftigung mit Edward Quinns Riviera-Chronik ist auch ein vergnügliches Ratespiel. Ist der beleibte Mann mit Hut und Sonnenbrille, dessen rechte Hand in der Seitentasche seines Nadelstreifen-Zweireihers steckt, und der in diesem Augenblick aus einem Eisenbahnwaggon mit der Aufschrift carrozza gestiegen ist ein Mafioso, Detektiv oder Leibwächter? Es ist der ägyptische Ex-König Faruk, der 1953 in Nizza aus dem Train bleu steigt, der feudalen Zugverbindung zwischen Paris und der Riviera. Wer spielt hier Tennis à la Jacques Tati als Monsieur Hulot? Peter Ustinov. Wer ist der ältere, elegante Herr, der eine attraktive, deutlich jüngere Frau anlächelt, die ihrerseits ins Objektiv des Fotografen lächelt: Vater, Ehemann, Liebhaber? Quinns Aufnahme zeigt Zsa Zsa Gabor und den achtzigjährigen Aga Khan III. vor dessen Villa in Le Cannet, 1955. Der GI, der auf einem Foto Quinns samt Gewehr an einer Promenadenmauer lehnt, ist nicht echt, sondern Frank Sinatra, der in Kings Go Forth einen GI spielt, den die Wirren am Ende des Zweiten Weltkriegs an die Côte d’Azur verschlagen haben.
Erst die Bücher Stars Off The Screen (1994), Edward Quinn, Fotograf, Nizza (1997), wichtige Ausstellungen und Retrospektiven in den letzten Lebensjahren befreiten Quinns fotografischen «Riviera Cocktail» endgültig aus dem Illustrierten-Kontext und belegten die Qualität dieses wichtigen Teils seiner Arbeit nach künstlerischen Kriterien.
Man erkannte, dass Quinns beste Bilder ebenso von dem leben, was sie zeigen und wie sie es zeigen, wie von dem, was sie unseren Fantasien, Spekulationen und Sehnsüchten zuliebe unausgesprochen oder in produktiver Schwebe lassen. Die Aufnahmen machen auch deutlich, in welchem fotografischen Referenzsystem sich Quinn bewegte, wenn Spontaneität und Bildkomposition in seinen Aufnahmen eine zwingende visuelle Einheit bildeten. Und noch im dichtesten Partygewühl bewährte sich Quinns Virtuosität des Verschwindens aus der Menge in der Absicht, abseits des Fotografen-Rudels seinen eigenen Blick zu suchen.
Kaum hatte sich Edward Quinn als Berufsfotograf an der Riviera niedergelassen, suchte er auch die Bekanntschaft Pablo Picassos. Für die internationale Presse war Picasso ein Medienstar, Picasso-Fotos verkauften sich so gut wie die Aufnahmen der grossen Stars der Epoche. Schon bei der ersten Begegnung mit dem Künstler bewährte sich Quinns Strategie, auf die Arbeitsmethoden der Society-Fotografen, die den Künstler bei jeder (öffentlichen) Gelegenheit belagerten, konsequent zu verzichten. Und als sich die Fotoreporter 1951 aus der Keramikausstellung in Vallauris zurückgezogen hatten und mit ihren Picasso-Bildern bereits zu ihren Agenturen unterwegs waren, blieb Quinn in der Ausstellung, stellte sich vor und fragte Picasso, ob er ihn mit seinen Kindern Claude und Paloma fotografieren dürfe. Die Aufnahmen gefielen Picasso so gut, dass er Quinn erst einmal Zugang zu seinem Töpferatelier in Vallauris gewährte. Der Künstler fühlte sich von Quinn nicht nur unbehelligt („Lui, il ne me dérange pas.“); er nahm an Quinns Fotoprojekt aktiv Anteil, weil auch er einen Sinn in der ernsthaften fotografischen Erschliessung seines Werks und seiner Welt sah.
„Sobald ich anfing zu fotografieren, konzentrierte sich Picasso auf seinen eigenen Ausdruck, als wolle er sich von seiner besten Seite zeigen. Nach wenigen Minuten war er dann bereits so beschäftigt oder in ein Gespräch vertieft, dass er mich völlig vergass. Das war genau die Situation, die ich brauchte, um ungestellte und glaubwürdige Fotos von ihm zu machen. Dabei habe ich die Kamera wie einen Stift benutzt, der die vielfältigen Tätigkeiten Picassos in der ihm gewohnten Umgebung aufzeichnet.“
Keinem anderen Fotografen hat Picasso in vergleichbarem Mass Zugang zu seinem Privatleben gewährt, und auch er wollte nie er ein Foto vor der Veröffentlichung sehen. Quinns Aufnahmen verschaffen Einblick in eine Lebens- und Arbeitswelt, in der noch im verstecktesten Winkel Spuren des Entstehungsprozesses, fertige und unfertige Werke zu entdecken sind – das Ganze eine Art Environment und Gesamtkunstwerk zwischen den Polen Alltag und Kunst, Lebensintensität und obsessiver Vertiefung in die Arbeit – die Gegenwelt zum Glamourzirkus an der Küste in der Abgeschiedenheit des Hinterlands.
«Picasso und ich telefonierten noch einige Tage vor seinem Tod miteinander. Seine Stimme klang seltsam, und ich hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Er sagte, dass wir uns bald sehen müssten. Ich war über ein Jahr nicht mehr bei ihm gewesen. Picasso wollte nicht mehr fotografiert werden. Er hatte sich verändert.»
Am 8. April 1973 stirbt Pablo Picasso. Seine Welt war die letzte, die Edward Quinn noch mit der Côte d’Azur verband. Die Zukunft führt ihn zwar noch ins Atelier von Georg Baselitz in Imperia, vor allem aber ins norddeutsche Derneburg. Edward Quinns letzte fotografische Kunst-Geschichte beginnt. Georg Baselitz kennt Quinns Picasso-Bücher und willigt ein in eine Zusammenarbeit von vergleichbarer Intensität und Ausführlichkei.
1992 ziehen Edward und Gret Quinn in die Schweiz. Im Dachstock des Edward Quinn Archive befindet sich der Ort, an dem sich ein halbes Jahrhundert später die Côte d’Azur der Golden Fifties in einen geheimnisvollen Bezirk verwandelt. Gret Quinn sitzt vor dem Vergrösserungsapparat und verhilft den Haupt- und Nebendarstellern von damals zu einem flüchtigen Comeback: Das Negativ lässt manchmal kaum ahnen, wer darauf festgehalten ist. Doch dann, auf dem Fotopapier, verwandeln sich diffuse, nicht lesbare Grauzonen in die Stars, die unser Filmgedächtnis bevölkern, in Audrey Hepburn zum Beispiel. Erinnerungen an Sabrina (1954) mit Humphrey Bogart, William Holden, Regie Billy Wilder. An Breakfast At Tiffany’s von Blake Edwards (1961). An My Fair Lady mit Rex Harrison, Regie George Cukor.
Edward Quinns Aufnahmen lassen sich anschauen und lesen als Enzyklopädie eines der Alltagsrealität entrückten Lebens in der Bel Etage im Land des Lächelns. Niemand arbeitet, niemand leidet, niemand weint. Man ist Star oder Statist, der gelegentlich auch durch Zufall mit ins Bild kommt und mit seinem kleinen Auftritt viele Fotos zur Bildgeschichte erweitert. Und so wie in Quinns Starfotografien die Übergänge zwischen Rolle und Alltag, Inszenierung und Natürlichkeit fliessend sind, zeigen auch seine Aufnahmen der kulturellen Prominenz der damaligen Epoche die Künstler und Schriftsteller als Teil einer „Gesamtatmosphäre der Zeit“ (Boris Groys), in der das Bedürfnis nach Authentizität noch keine ästhetische Forderung war.
Doch zeigt Quinn den „wahren“ Picasso, die „wahre“ Zsa Zsa Gabor? Kann Fotografie überhaupt zu irgendeiner Wahrheit des Porträtierten vordringen? Quinns Künstlerporträts, und insbesondere seine Aufnahmen Picassos, die so viele Seiten der Persönlichkeit des Künstlers herausarbeiten, stellen nachhaltig Fragen nach der Wahrheit fotografischer Abbildung überhaupt.
Gret Quinn war in der Zusammenarbeit mit ihrem Mann von Anfang an für Verarbeitung, Administration und das Archiv zuständig, das unter «Stars» von Aimée, Anouk bis Zanuck, Darryl reicht, unter «Kultur» von Aragon, Louis bis Warhol, Andy und unter «Celebrities» von Adenauer, Konrad bis Zita, ex Empress of Austria. Auf Gret Quinns Orientierungssinn ist bei der Zeitreise durch die Côte d’Azur der 1950er Jahre Verlass. Und was auf den ersten Blick ins Archiv improvisiert und undurchdringlich scheint, erweist sich auf der Suche nach Orson Welles, Kirk Douglas, Danny Kaye, Cary Grant, Gina Lollobrigida, Le Corbusier, Simone Signoret und Roberto Rossellini als durchdacht geordneter fotografischer Kosmos.
Dutzende Ordner im ganzen Farbspektrum ordnen die Welt der Côte d’Azur der 50er Jahre auf unzähligen Kontaktbögen nach Namen und Kategorien. Auf Briefumschlägen – geordnet in Champagner-Schachteln – steht der Cast für den ultimativen Hollywood-Film; in den Couverts die Parade der Stars, Berühmtheiten, Künstler, Literaten auf 6x6- und Kleinbildnegativen. Dann die Serien der vintage prints, aber auch grossformatige Abzüge, die an Edward-Quinn-Ausstellungen zu sehen waren.
Viele Darsteller aus Quinns Riviera-Chronik sind vergessen. Andere leben im kollektiven Filmbewusstsein weiter, auch wenn sie längst gestorben sind. Und ganz nebenbei schärft sich beim Betreten von Quinns Welt ohnehin das Bewusstsein für die Vergänglichkeit, für ein definitives
THE END
Einführung zum Buch „Riviera Cocktail“, teNeues Publishing Group 2007